Eine Partei mit Visionen

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Zur Gründung einer Progressiven Plattform

An dieser Stelle könnte ich mit vielen Worten und Belegen mein Entsetzen und meine Enttäuschung über den Niedergang der Piratenpartei darlegen. Darüber, wie sich viele langjährige, vorher geschätzte und grundrechtsbewegte Mitglieder plötzlich zu Demokratie und Gewaltfreiheit bekennen sollten, während sie gleichzeitig als Stalinisten und Linksextremisten beschimpft wurden. Und selbst geschätzte Menschen aus dem näheren Umfeld dies durch Schweigen hinnahmen und damit ein Stück weit auch legitimierten.

Das haben andere aber schon getan und Illustrationen der tiefen Zerwürfnisse gibt es bereits zu Genüge.

Als ich mich irgendwann 2011 dazu entschied, in die Piratenpartei Mitglied zu werden, hatte ich bereits über mehrere Jahre immer wieder bei einzelnen Aktionen und Projekten der Partei mitgeholfen. Ich war beim Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung aktiv und wollte eigentlich nie Mitglied einer Partei werden, da ich der Überzeugung war, dass eine Parteimitgliedschaft strukturbedingt über kurz oder lang Betriebsblindheit und damit eine Unfähigkeit Visionen zu entwickeln zur Folge hätte. In meiner Distanz zur Piratenpartei wurde ich damals u.a. auch bestätigt durch den Bundesvorsitzenden Jens Seipenbusch, der sich mit dem Helmut-Schmidt-Zitat „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ wahrscheinlich ziemlich clever vorkam.

All das änderte sich mit den überfälligen parteiinternen Klärungen zu rechten Positionen und dem Parteitagsbeschluss, das Bedingungslose Grundeinkommen als ein erstzunehmendes Modell in das Parteiprogramm aufzunehmen. Die Mitglieder hatten offenbar erkannt, dass sich die Gesellschaft unter dem Eindruck weltweiter Vernetzung und allgemein verfügbaren Wissens auch in ihrer Grundstruktur und ihrem Verständnis von Arbeit verändern würde. Die Piratenpartei hatte sich gewandelt von einer Partei der Abwehrrechte gegenüber Überwachung, Staat und Unterhaltungsindustrie hin zu einer Partei, die auch die Chancen der Vernetzung, ihr Demokratisierungspotential und ihre Implikationen für die Gesellschaft erkannt hatte.

Viele Berichte über die Piratenpartei 2011 und 2012 waren dann auch über die Neuerungen und Potentiale, welche wir aus dem Netz ziehen würden. Unsere Ansätze in den Bereichen digitaler Mitbestimmung, gerechten Urheberrechts und Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungen waren dermaßen in Kontrast zur Aufstellung der damals in den Parlamenten vertretenen Parteien, dass es uns für kurze Zeit tatsächlich gelang, ernsthafte gesellschaftliche Debatten in Gang zu setzen. Dabei war nicht mal entscheidend, ob diese Positionen in der Partei mehrheitsfähig waren. Selbst die Datenschutzspackeria konnte mit ihren Positionen zu Post-Privacy Diskussionen zum Konzept der Privatsphäre und ihr direktes Wechselspiel mit gesellschaftlicher Toleranz anzetteln. Eine Diskussion deren Relevanz angesichts globaler Informationssammlung durch Geheimdienste und Datenkonzerne, der Hilflosigkeit der Datenschützer*innen durch nationalstaatliche Rechtsrahmen und der daraus resultierenden zunehmenden Gleichgültig der Bevölkerung täglich zunimmt.

Damals wie heute war für mich der Lackmustest für parteipolitisches Engagement: Ist diese Partei in der Lage, grundlegende Probleme anzusprechen und gesellschaftliche Debatten auszulösen? Können Lösungsansätze entwickelt werden, die sich nicht auf Binsenweisheiten und althergebrachten Konzepten stützen sondern durch breite Diskussion und Einbeziehung wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnisse stützen? Gibt es Visionen, die über eine bloße Reaktion auf das Hier und Jetzt hinausgehen?

Wenn mich heute jemand fragen würde, ob die Piratenpartei in der Lage sei gesellschaftliche Debatten anzustoßen müsste ich allein schon aufgrund der Frage die Stirn runzeln. Vollkommen undenkbar, dass uns eine Zeitung wie das Handelsblatt eine ganze Schmähausgabe widmen würde oder gar Intellektuelle öffentlich unserer Partei interessante Ansätze zugestehen würden. Und im Lichte einer parteiinternen Stimmung, in der das Argument weniger zählt als die Person die es ausspricht, ist in meinen Augen auch nicht absehbar, ob sich das wieder ändern wird. Auch nach Jahren ist es uns noch nicht gelungen unsere Strukturen zur Meinungsfindung auf ein Niveau zu heben das unserem eigenen Versprechen von allgemeiner Mitbestimmung entspricht. In weiten Teilen der Partei finden kaum noch politische Diskussionen statt. Wir retten uns von Wahlkampf zu Wahlkampf und überbrücken die Zeit dazwischen mit Rants darüber, wie dumm oder moralisch zweifelhaft dieses oder jenes Mitglied oder dessen Gruppe gehandelt hat.

Die Auseinandersetzung hat sich inzwischen dermaßen polarisiert, dass ich für mich persönlich in dieser Piratenpartei derzeit keine Zukunft mehr sehe. Zu deutlich war in den Monaten zuvor geworden, welche Mittel im Namen einer angeblichen Liberalität und Ideologiefreiheit gedultet oder sogar begrüßt werden. Und das geht vielen so. Umso mehr begrüße ich den Start der „Progressiven Plattform“, deren Grundstein beim aBPT im Foyer der Halle in Halle gelegt wurde. Mit ihr verbinde ich die Hoffnung dass es den progressiven Kräften in und außerhalb der Piratenpartei gelingt eben jene moderne Strukturen zu schaffen, welche in der Gesamtpartei bislang blockiert wurden. Ob und wie sich die Plattform irgendwann wieder in die Piratenpartei integrieren wird bleibt abzuwarten.

Den Zeitpunkt für die Gründung einer neuen, linksliberalen Partei sehe ich trotz der Lücke im politischen Spektrum derzeit nicht, dafür ist der Nachhall der Piratenpartei und die Entstehung der nationalliberalen AfD noch zu präsent. Das mag sich in den kommenden Jahren aber noch ändern. Umso wichtiger ist es, die Vernetzung progressiver Menschen bereits jetzt zu forcieren und Strukturen zu schaffen die es uns in einem Jahr ermöglichen, entweder einer bis dahin wieder zu Konstruktivität und Visionen fähigen Piratenpartei neue Kraft zu geben oder aber einen Neuanfang als eigenständige Quelle gesellschaftlicher Impulse zu agieren.